29 Jan Wüstenschiff
Die Bauarbeiter waren noch gar nicht ganz gegangen, da bröckelte bereits der Putz im neuen Souk Waqif von Doha. An den Häuserecken schien Lehm von den Zwischendecken aus Barasti-Stroh zu bröseln. Auch die weiße Fassadenfarbe in dem Basar war seltsam ungleichmäßig aufgetragen und schien an manchen Stellen von der ersten Sekunde an ausgeblichen. Die Balkendecken mit ihren grau angelaufenen Hölzern schienen renovierungsbedürftig, kaum dass der letzte Zimmermann seine Sachen eingepackte hatte und nach Hause gefahren war. Ein seltsamer Anblick in den Emiraten am Golf, wo alles neu und gestylt ist, alles möglichst edel sein und teuer aussehen soll. Ein ungewöhnlicher Eindruck in einer Gegend, wo Herrscher Sand zu Gold und Wüste zu Geld werden ließen und niemals an Farbe oder Putz sparen würden. Ein Wunder in einer Region, wo jeder täglich die Schneewittchenfrage nach dem Schönsten, dem Reichsten, dem Mächtigsten neu stellt – und jeder sehen soll, was man hat und was man sich leisten kann.
Im Souk Waqif von Doha ist alle vermeintliche Vergänglichkeit deshalb in Wirklichkeit nicht nur Absicht, sondern Auftrag. Der Basar im Zentrum der Hauptstadt von Qatar ist zwar weitestgehend auf dem Reißbrett entstanden – aber entworfen und zu großen Teilen errichtet nach den Kindheitserinnerungen des Herrschers Scheich Hamad bin Khalifa al-Thani. Der milliardenschwere Mann hatte einen sentimentalen Moment und vermisste die Vergangenheit in seiner ansonsten supermodernen Hauptstadt aus Beton, Stahl und Glas. Vom Basar seiner Jugend waren nur fast verlassene Ruinen geblieben.
In Rekordgeschwindigkeit war ebenso wie in Dubai und Abu Dhabi fast alles Alte verschwunden. Es ging auch deshalb schneller als anderswo in der Welt, weil es vor dem Boom rund um Öl und Gas in dieser Gegend kaum etwas anderes als ein paar Zelte, einige einfache Hütten, das eine oder andere Lehm-Fort und ein paar Kai-Mauern gab. Jede Erinnerung an diese Zeit der materiellen Armut schien seitdem unschicklich – bis die Machthaber in den Emiraten eine gewisse Traurigkeit darüber packte, dass alles Erbe verleugnet und das Gestern von Bulldozern überrollt wurde.
In Qatar ist der Spagat beim Souk Waqif gelungen: etwas neu zu bauen, das wirklich alt anmutet und nicht nach Plastikwelt aussieht. Das wenige Alte zu integrieren und zugleich etwas zurückzuholen, ohne es nach Disneyland aussehen zu lassen. Der Erfolg liegt auch darin begründet, dass die Qataris selber den neuen Basar in Sichtweite des von Star-Architekt I.M.Pei aus New York errichteten Museums für Islamische Kunst vom ersten Moment angenommen haben. Sie schlendern durch die engen Gassen, spazieren über die kopfsteingepflasterten Plätze, kaufen in den winzigen Geschäften für den Alltag ein, speisen in den libanesischen und indischen Spezialitäten-Restaurants und treffen sich bei Einbruch der Dunkelheit zum Wasserpfeiferauchen auf den Plätzen vor den vielen Cafés.
Nach ihnen kamen die Fremden, die Touristen ebenso wie manche Gastarbeiter, und taten dasselbe – weil alles so herrlich authentisch wirkt. Doha hat seitdem einen neuen Dreh- und Angelpunkt. Einen mit Charme und sogar ein bisschen Magie. Die Hauptstadt mit ihren Schachbrettstraßen hat plötzlich ein Herz. Weil der Herrscher seine Kindheitserinnerungen bauen ließ – und weil die Planer ihn richtig verstanden haben und nicht etwa einen Carrefour-Supermarkt mit auf alt getrimmter Fassade in die Innenstadt zimmerten. Im Gegenteil: Für die Geschäfte im Souk Waqif gelten Regeln, die noch vor Jahren im Drang nach Moderne und in der Marken-Sehnsucht der Emirate-Araber undenkbar gewesen waren. Leuchtwerbung ist in diesem Gassengewirr so gut wie verboten, Logos dürfen bestimmte Größen nicht überschreiten. Und die gesamte Anmutung eines Ladens muss der eines Basars entsprechen, der über Jahrhunderte gewachsen ist – wie in Istanbul oder Kairo oder Tunis. Und verkauft werden soll dort nicht vorrangig, was es auch in den Shopping-Malls gibt, sondern das, was schon immer zum Alltag gehörte. Und so gibt es winzige Läden, die nichts als jemenitischen Honig oder ausschließlich einfache Küchengeräte und Schüsseln anbieten. Es gibt sogar einen Laden, in dem abgerichtete Jagdfalken verkauft werden.
Die Einheimischen in den Emiraten wissen oft nicht so recht, wo sie hingehören: in welche Welt, in welche Zeit, unter welches Regelwerk. Und in ihrer Suche bemühen sich die Jüngeren nun zusehends, unter Überspringung der zerrissenen Eltern-Generation, am Leben der Großeltern anzuknüpfen. Am Donnerstag und Freitag, dem islamischen Wochenende, rollen sie einen Teppich zusammen, packen einen Grill ein, nehmen Teller, Tassen, Lammfleisch und Gewürze mit und fahren mit dieser Ausrüstung in ihrem Geländewagen zum Picknicken in die Wüste. Schließlich war sie das Wohnzimmer der Ahnen.
Manche warten nicht mal die nächste Ausfahrt ab, kennen sich im Hinterland ihrer ausufernden Weltstädte ohnehin nicht mehr aus. Sie fahren so weit, bis sie rechts und links nur noch Sand sehen und rumpeln über die Bankette von der Fahrbahn kaum achtzig Meter weit hinein in die Wüste, schlagen dort ihr Lager auf – und sind selig.
Die Sehnsucht nach der Landschaft der Väter und der Geborgenheit, die die Wüste in all ihrer nur vermeintlichen Feindseligkeit bietet, gepaart mit der gewissen Sorge vor Komfortverlust, hat auch Abu Dhabis Herrscher Khalifa bin Zayed al-Nahyan dazu bewegt, etwas Geld in die Hand zu nehmen. Für alles in allem etwa eine Milliarde Dollar, die genaue Summe gilt als Staatsgeheimnis, hat der Scheich in den Dünen der Rub al-Khali-Wüste gut 200 Kilometer von Abu Dhabi-Stadt das Luxushotel Qasr al-Sarab errichten lassen: von außen ein Festungsdorf wie aus den Geschichten von 1001 Nacht, eine Wüstenstadt mit hohen Mauern, mit Türmen und Erkern, vor die der Wind immer neue Sandberge schaufelt – von innen ein orientalischer Palast in warmen Erdfarben und ganz ohne den in den Emiraten sonst so weit verbreiteten Gold-Protz. Es ging ihm so ähnlich wie Scheich Hamad aus Qatar. Ihm fehlte etwas, und es sollte deshalb neu erstehen.
In den kühleren Wintermonaten sind nun viele Europäer hier, um Wüste vereint mit Luxus zu erleben. Im Sommer, wenn es den Fremden von weither zu heiß ist, kommen die Araber selber und versuchen für ein paar Tage, sich das Leben ihrer Väter in dieser täglich neu arrangierten Landschaft aus Sand zu vergegenwärtigen – freilich ohne auf Klimaanlage, Badewanne und Zimmerkühlschrank verzichten zu müssen. Den Komfort, den der Ölreichtum gebracht hat, mag kaum einer von ihnen mehr missen – auch nicht auf Wochenendreise in die eigene Vergangenheit.
Wo es hingegen nichts gab, kann man auch an nichts anknüpfen, nichts voreilig Überrolltes wieder aufrichten. Auf der Abu Dhabi-Stadt unmittelbar benachbarten Insel Saadiyat ist das so. Alles hier ist eines nicht allzu fernen Tages artifiziell – und trotzdem ist alles Art. Die über 20 Milliarden Dollar, die Scheich Khalifa hier investieren lässt, machen es möglich, den Widerspruch zu überwinden. Jahrhunderte lang gab es auf der flachen Insel nichts als Sand – den des Strandes, den der Dünen und den der Wüste. Und es gab Mangroven. All das war unbesiedelt und weitestgehend unbesucht. Jean Nouvel baut hier nun auf Geheiß der Herrscherfamilie eine Filiale des Louvre, Frank O. Gehry ein Guggenheim-Museum, Norman Foster ein Museum für den Staatsgründer Scheich Zayed, Zaha Hadid ein Center for Performing Arts und Tadao Ando ein Museum des Meeres – Eröffnung nach und nach ab 2015.
Weil Kunst-Pilger auch wohnen wollen, gut essen mögen und Spaß an Strand und Pools haben, sind die ersten Hotels auf Saadiyat bereits eröffnet – darunter ein dem Meer zugewandtes Park Hyatt, in dessen Rücken sich etwas für diese Klima-Zone wiederum außerordentlich Artifizielles befindet. Dort ist ein Golfplatz entstanden – sattgrün dank künstlicher Bewässerung aus hunderten Kilometern versteckter Leitungen.
Bei allem wieder entdeckten Stolz auf Kultur und Tradition scheint der Hang zum Bewahren oder Restaurieren in Dubai, der Glitzerstadt am Golf, noch am wenigsten ausgeprägt zu sein. Die letzte Dhau-Werft am Creek? Umgesiedelt. Der Gold-Souk? Zwar noch vorhanden, aber in einer Shopping-Mall umso größer nachgebaut. Die traditionellen hölzernen Abras, die Wassertaxis über den Creek? Zum Teil bereits durch gesichtslose Metallboote ersetzt. Aber, zum Glück, das Drumherum an diesem fjordartigen Meeresarm, der in die Stadt hineinragt, ist noch nicht angetastet. Das Viertel dort ist ungeliebt, aber erhalten, vermeintlich unmodern, aber es birgt den Zauber, den Fremde suchen: der Dhau-Hafen am Creek.
Die Boote dort liegen in Fünferreihen und ihre Farbe ist meist abgeblättert. An den Ankerketten klebt Rost. An Land türmen sich Kisten mit Früchten und Gewürzen, Pappkartons mit Fernsehern, Waschmaschinen, Kinderspielzeug. Mit betagten Holzkuttern, den traditionellen arabischen Dhaus, werden die Waren wie seit Hunderten von Jahren befördert – egal, wie alt das Schiff, wie rostig die Kette ist. Was aussieht wie die traurige Reihe abgelehnter Bewerber um einen Liegeplatz im Museumshafen, wie die Warteschlange an der Zufahrt einer Abwrackwerft ist ganz normaler Hafenalltag.
Unbeleuchtet sind die vor Anker liegenden Dhaus. Allenfalls im Führerhaus brennt abends eine flackernde Ölfunzel, ohne dass sich in der Dunkelheit die Silhouette eine Steuermanns abzeichnete, der über eine Seekarte gebeugt wäre. Die Dhau-Schiffer brauchen keine, haben wahrscheinlich nicht mal eine, und viele von ihnen kämen selbst ohne Kompass aus. Sie kennen die Wege, jede Sandbank, jede Untiefe auf ihrem Weg hinüber in den Iran, weiter hinaus durch die Straße von Hormus in den Indischen Ozean und ans Horn von Afrika. Viele stammen aus Seefahrerfamilien, die jahrhundertelang vor allem vom Schmuggel ganz gut gelebt haben. Wie viel der Ladung heute irgendwo am Zoll des Ziellandes vorbei die Küsten erreicht, wie viel immer noch Schmuggelware ist: Keiner weiß es genau. Und es gibt nicht allzu viele, die es interessiert.
Abends, wenn die Luft ein wenig abgekühlt ist, huschen unförmige Schatten die unbeleuchteten Relings entlang, bewegen sich Kartons mit Menschenkraft über die Decks, verschwinden in Ladeluken, türmen sich auf dem Vorschiff, werden sicherheitshalber mit Kokosseilen festgezurrt.
An den Anlegern doubelt das geordnete Dubai plötzlich das Durcheinander Kairos, und die Kulisse ist nicht mehr aus der Zukunft. Auf ein paar hundert Metern entlang der Dhau-Anleger und der Wassertaxi-Haltestellen lebt die Vergangenheit auf. Dort ist die Stadt so arabisch wie nirgendwo sonst. Und am schönsten ist all das, wenn die Sonne gerade hinter dem Horizont abgetaucht ist, die Muezzine zum Gebet rufen, die Dämmerung alles Neue kaschiert und die Kulisse mit abnehmendem Licht immer zeitloser wird.
Kürzlich war unterdessen einem der Bau-Großinvestoren aufgefallen, dass Dubai keine Altstadt hat, aber eine brauchen könnte: mit Geschäften, Wohnungen, der Romantik von 1001 Nacht, aus der Urlauberträume gestrickt sind. Sie wurde eilends gebaut – der Einfachheit halber ganz neu auf Brachland – und ist längst bezogen. Das Immobilien-Großprojekt heißt Dubai – The Old Town. Es müssen andere Planer als beim Souk Waqif in Doha gewesen sein. Denn alt sieht diese Altstadt nicht aus. Eher artifiziell.